Die Erfassung der Arbeitszeit: Renaissance der Stechuhr droht
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer gemessen werden kann. Nur so könne die Wirksamkeit des Unionsrechtes zum Schutz der Arbeitnehmer garantiert werden.
Der EuGH stellte mit Urteil vom 14. Mai 2019 – Aktz. C-55/18 fest, dass die EU-Arbeitszeitrichtlinie zwar nicht die konkreten Maßnahmen festlege, mit denen die Mitgliedstaaten die Umsetzung der in der Richtlinie vorgesehenen Rechte sicherstellen müssten. Vielmehr seien die Mitgliedstaaten frei, die „erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen. Auch wenn die Mitgliedstaaten daher über einen gewissen Spielraum verfügten, müssten sie angesichts des von der EU- Arbeitszeitrichtlinie verfolgten Zwecks, einen wirksamen Schutz der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer zu gewährleisten, sicherstellen, dass die praktische Wirksamkeit dieser Rechte in vollem Umfang gewährleistet wird. Die von den Mitgliedstaaten festgelegten Modalitäten zur Umsetzung der EU- Arbeitszeitrichtlinie dürften nicht zu einer Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte führen.
Ziel der EU-Arbeitszeit-Richtlinie gefährdet
Vor diesem Hintergrund betonte der EuGH, dass ohne ein System, mit dem die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann, weder die Zahl der vom Arbeitnehmer tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sowie ihre zeitliche Lage noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden könne. Damit sei es für Arbeitnehmer äußerst schwierig, die aus der EU- Arbeitszeitrichtlinie folgenden Rechte durchzusetzen. Die objektive und verlässliche Feststellung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit sei für die Feststellung, ob Höchstarbeitszeiten sowie Ruhezeiten eingehalten worden seien, unerlässlich.
Der EuGH vertritt daher die Auffassung, dass ohne die Verpflichtungen zur Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeit die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in der EU-Arbeitszeitrichtlinie vorgesehenen Schutzrechte nicht umfassend gewährleistet würden. Weder die Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer könnten überprüfen, ob diese Rechte beachtet würden. Ohne Erfassung der täglichen Arbeitszeit würde das Ziel der EU- Arbeitszeitrichtlinie – Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer – gefährdet.
Dagegen biete ein System zur Arbeitszeiterfassung den Arbeitnehmern ein wirksames Mittel, um an objektive und verlässliche Daten über die tatsächlich geleistete Arbeitszeit zu gelangen. Dadurch werde auch den zuständigen Behörden und nationalen Gerichten die Kontrolle der tatsächlichen Beachtung dieser Rechte erleichtert.
Es obliege allerdings den Mitgliedstaaten, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere dessen Form, zu bestimmen und dabei gegebenenfalls den Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereiches oder Eigenheiten, sogar der Größe, bestimmter Unternehmen Rechnung zu tragen.
Flexible Arbeitszeitgestaltung im Außendienst
Gerade im Vertrieb mit den zahlreichen Arbeitnehmern im Außendienst erfolgt die Arbeitszeitgestaltung derzeit oft sehr flexibel. Häufig wechseln sich Arbeitstätigkeit, Pausen und private Erledigungen ab. Gerade dieser Tätigkeitsbereich ist daher von hoher Eigenverantwortung geprägt. Arbeitgeber und deren Außendienstmitarbeiter fahren oft gut mit der Vertrauensarbeitszeit, mit der die früher vorherrschende Stechuhrmentalität schon seit längerer Zeit begraben wurde. Der EuGH stellte zwar fast, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines Zeiterfassungssystems zu bestimmen. Auch darf etwa den Besonderheiten bestimmter Tätigkeitsbereiche Rechnung getragen werden. Zumindest eine freiwillige Vertrauensarbeitszeit sollte damit möglich bleiben. Dies hat der EuGH in seiner Entscheidung nicht ausgeschlossen. Auch könnte der in der EU-Arbeitszeitrichtlinie angelegte Spielraum besser genutzt werden. So könnten etwa nicht nur leitende Angestellte, sondern auch alle Arbeitnehmer mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis bezüglich ihrer Arbeitszeit künftig ausgenommen werden. Dies würde zudem den praktischen Erfordernissen von Homeoffice und mobilem Arbeiten entsprechen. Derzeit ungeklärt ist jedoch, was der deutsche Gesetzgeber in dieser Hinsicht unternehmen wird.
Umsetzung ins deutsche Recht
In der Bundesregierung besteht zurzeit nämlich keine Einigkeit hinsichtlich der Umsetzung dieser Vorgaben des EuGH in nationales Recht. Während aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales verlautbart wurde, dass das Urteil sorgfältig ausgewertet und anschließend zügig umgesetzt werden solle, stellte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier die Umsetzungspflicht öffentlich generell in Frage und erklärte, dies über ein Gutachten klären zu lassen. Mit einem Referentenentwurf wird daher sicher nicht vor dem Jahresende zu rechnen sein. Arbeitgeber sind daher hiermit aufgerufen, die weiteren Entwicklungen in diesem Bereich aufmerksam zu verfolgen.