Das Vorfahrtsrecht für den Verkehr auf der Fahrspur gegenüber dem Verkehr auf dem Be­schleunigungs­streifen gemäß § 18 Abs. 3 StVO gilt auch dann, wenn auf der Fahrspur Stau herrscht. Das Wort „Vorfahrt“ in der Vorschrift leitet sich nicht aus einer Bewegung ab, sondern aus einem „Vorrecht“. Dies hat das Oberlandesgericht Celle vor kurzem mit Urteil vom 23. Juni 2021 unter dem Aktenzeichen 14 U 186/20 klargestellt.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im April 2018 kam es auf einer Autobahn in Niedersachsen zwischen einem Ferrari und einem Lkw zu einem Verkehrsunfall. Der Ferrari-Fahrer befand sich von einer Raststätte kommend auf dem Beschleunigungsstreifen. Zu diesem Zeitpunkt herrschte auf der rechten Fahrspur der Autobahn Stau. Der Ferrari-Fahrer überfuhr die durchgezogene Linie, welche die Beschleunigungsspur im vorderen Bereich von der rechten Fahrspur trennte, und blieb quer direkt vor einem Lkw stehen. Dieser fuhr dann auf den Ferrari auf. Der Ferrari-Fahrer erhob wegen der Unfallfolgen Klage auf Zahlung von Schadensersatz.

Das Landgericht Lüneburg gab der Schadensersatzklage in der ersten Instanz zunächst i.H.v. von 75 % des Gesamtschadens statt. Gegen diese Entscheidung legten beide Parteien Berufung ein.

Das Oberlandesgericht Celle entschied zu Gunsten des beklagten LKW-Fahrers. Der Kläger könne nur 25 % seines Schadens ersetzt verlangen, da er den Unfall durch mehrere Verkehrsverstöße selbst verursacht habe. Der Kläger habe das Vorfahrtsrecht des Beklagten aus § 18 Abs. 3 StVO und § 10 StVO missachtet sowie entgegen § 41 Abs. 1 StVO in Verbindung mit Anlage 2, Zeichen 295 eine durchgehende Linie überfahren.

Das Vorfahrtsrecht aus § 18 Abs. 3 StVO gelte auch dann, so das Oberlandesgericht, wenn auf der bevorrechtigten Fahrbahn Stau herrscht. Die gegenteilige Ansicht des Bußgeldsenats des Oberlandesgerichts Hamm (Beschl. v. 03.05.2018 – III-4 RBs 117/18), dass nur fahrende Fahrzeuge bevorrechtigt sein sollen, sei unzutreffend. Denn das Wort „Vorfahrt“ aus § 18 Abs. 3 StVO leite sich nicht aus einer Bewegung („fahren“) ab, sondern aus einem „Vorrecht“. Dies zeige auch ein Vergleich mit der Regelung des § 7 Abs. 5 StVO. Auch diese Vorschrift sei gegenüber einem nur verkehrsbedingt stehenden Fahrzeug zu beachten. Bloß verkehrsbedingtes vorübergehendes Stehenbleiben sei kein Halten, sondern Warten und werde dem unterbrochenen Verkehrsvorgang des fließenden Verkehrs zugerechnet. Dies gelte auch für § 10 StVO.

Dem beklagten LKW-Fahrer sei nach Auffassung des Oberlandesgerichts kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen. Jedenfalls habe der Kläger nicht beweisen können, dass der Beklagte unaufmerksam oder falsch reagiert habe. Es sei zu beachten, dass sich in einem schrägen Bereich vor dem Lkw ein toter Winkel befindet, den der Lkw-Fahrer bauartbedingt nicht bzw. nur mit einem gesetzlich nicht vorgeschriebenen Sicherheitsspiegel einsehen kann. Ein Lkw-Fahrer dürfe darauf vertrauen, dass sich ein Fahrzeug nicht direkt in den nicht einsehbaren Bereich setzt. Er müsse nicht vor jedem kurzfristigen Anhalten im Stop-and-go-Verkehr den Bereich rechts vorne neben seinem Lkw überprüfen.

Die Mithaftung der Beklagten in Höhe von 25 % ergebe sich alleine aus der Betriebsgefahr des Lkw, so die Richter des Oberlandesgerichtes.

 

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