Verstößt ein Verkehrsteilnehmer beim Linksabbiegen in schwerwiegender Weise gegen seine Rückschaupflicht gemäß § 9 Abs. 1 StVO und kommt es allein deshalb mit einem überholenden Fahrzeug zu einem Unfall, so begründet dies seine volle Haftung für die Unfallfolgen. Die Betriebsgefahr des verunfallten Fahrzeugs tritt hinter dem Verschulden des Unfallverursachers vollständig zurück. Dies hat das Oberlandesgericht München mit Urteil vom 6. Oktober 2021 entschieden.

Dem Rechtsstreit lag folgender Sachverhalt zugrunde. An einem Morgen im Mai 2014 kam es auf einer Kreisstraße in Bayern zu einem berührungslosen Unfall. Ein Traktorfahrer wollte mit seinem Fahrzeug nach links in einem Feldweg einbiegen. In diesem Moment wurde er von einem anderen Fahrzeug überholt. Der Fahrer des Fahrzeugs war vom plötzlichen Abbiegevorgang des Traktorfahrers so überrascht, dass er ein Ausweichmanöver unternahm und dabei mit seinem Fahrzeug gegen einen Baum fuhr. Er klagte aufgrund dessen gegen den Traktorfahrer und dessen Haftpflichtversicherung auf Zahlung von Schadensersatz. Das Landgericht München I wies die Klage ab. Dagegen richtete sich die Berufung des Klägers.

Das Oberlandesgericht München hat mit Urteil vom 06.10.2021 unter dem Aktenzeichen 10 U 1012/19  zu Gunsten des Klägers entschieden. Ihm stehe ein Anspruch auf Schadensersatz zu. Der Beklagte hafte für die Unfallfolgen vollumfänglich. Das Sachverständigengutachten habe ergeben, dass der Beklagte gegen seine beim Abbiegen gemäß § 9 Abs. 1 StVO zu beachtenden Pflichten verstoßen habe. Nach Angaben des Sachverständigen hätte der Beklagte das Klägerfahrzeug sehen müssen, wenn er seiner Rückschaupflicht nachgekommen wäre. In diesem Fall hätte der Beklagte von seinem Abbiegevorgang Abstand nehmen müssen, so dass es nicht zu dem Ausweichmanöver des Klägers gekommen wäre.

Nach Auffassung des Oberlandesgerichts sei der Pflichtenverstoß des Beklagten als so schwerwiegend einzustufen, dass ausnahmsweise die bei einem Überholmanöver in der Regel zu berücksichtigende Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs vollständig hinter dem Verschulden des Beklagten zurücktrete. Ein Mitverschulden sei dem Kläger nicht anzulasten, da für ihn nicht erkennbar gewesen sei, dass der Beklagte nach links abbiegen wollte.